1522 kam die Reformation nach Bremen: Heinrich von Zütphen hielt die erste reformatorische Predigt. 500 Jahre später fragen wir, was heute reformiert werden muss. Wo müssen und wo können wir unser Leben und unsere Welt ändern?
Zehn Bremerinnen und Bremer zeigen, an welcher Stelle sie sich für Freiheit und Veränderung einsetzen und welcher Film sie bei ihrem Engagement begleitet und gestärkt hat.
Alle Filme laufen im Kommunalkino City 46, Birkenstraße 1 (Herdentor).
Die Farbe des Horizonts
USA 2018, Regie: Baltasar Kormákur, mit Shailene Woodley, Sam Claflin, Grace Palmer, 105 Min., OmU
Di. 13.9.2022 / 18.00 mit Gast: Hanna Helfmeier, Abiturientin und Seglerin. Moderation: Heinz-Martin Krauß, Nebelthau-Gymnasium
Tahiti 1983: US-Backpackerin Tami aus San Diego lässt sie sich durch die Welt treiben, wechselt von einem Ort und Job zum nächsten. Was als nächstes passieren wird, überlässt sie dem Schicksal, und das führt sie zu Richard, einem britischen Profi-Segler. Ein Traummann auf einer Trauminsel, alles ist perfekt. Bald hat das junge Paar auch einen lukrativen Auftrag an Land gezogen. Sie sollen die Luxusjacht eines Ehepaares von Tahiti nach San Diego überführen. Glücklich starten sie ins Abenteuer, doch unerwartet trifft sie 2000 Seemeilen vom Festland entfernt ein gewaltiger Hurrikan. Das Boot ist nur noch ein Wrack, Richard lebensgefährlich verletzt und Tami hat keinerlei Segelerfahrung.
„Die Farbe des Horizonts“ beruht auf wahren Ereignissen, die Tami Oldham Ashcraft über ihren 41 Tage währenden Schiffbruch im Buch „Red Sky in Mourning: A True Story of Love, Loss and Survival at Sea“ schrieb.
Eine Frau auf einem seeuntüchtigen Segelboot, mitten im Pazifischen Ozean, mit wenig Nahrung und Trinkwasser, dazu ein schwer verletzter Mann, den sie doch gerade erst kennen gelernt hat und keineswegs verlieren will – das ist jene Handlungsprämisse, die hier so große Angst und Beklemmung auslöst. […] Doch nach der Katastrophe des Hurrikans, in den Actionszenen atemberaubend und technisch perfekt inszeniert, geht es auch um die Rettung dieser Liebe, und das verstärkt die Tragik des Films noch. (Michael Ranze, programmkino.de)
Zur Sache, Schätzchen
BRD 1967, Regie: May Spils, mit Werner Enke, Uschi Glas, 78 Min., s/w
Di. 11.10.2022 / 18.00 vorgestellt von Edda Bosse, Präsidentin der Bremischen Evangelischen Kirche. Moderation: Louis-Ferdinand von Zobeltitz
Wäre da nicht sein Freund, der glücklose Schauspieler Henry, hätte der arbeitsscheue Martin seinen 25. Geburtstag wohl im Bett verbracht. Während er ziellos durch Schwabing treibt, lernt er die eigenwillige Barbara kennen. Die wirbelt sein lahmes Leben fröhlich durcheinander, doch trotz der schönen Zeit mit ihr ist Martin überzeugt: „Es wird böse enden.“ 1968 war der Film ein Erfolg an den Kinokassen.
Mit 26 Jahren präsentierte May Spils als erste deutsche Regisseurin der Nachkriegsgeneration dem Publikum 1968 eine Komödie, die frech den Zeitgeist traf und zum Kultfilm wurde.
Edda Bosse, Präsidentin der Bremischen Evangelischen Kirche, hat den Film als Jugendliche zusammen mit ihrer Großmutter gesehen und war davon beeindruckt, wie hier althergebrachte Ordnungen auf den Kopf gestellt werden.
Mehr zum Film, seinem Umfeld und die Folgen: http://zursacheschaetzchen.de/
Kebire
TRK 2022, Regie: Mustafa Diyar Demirsoy, 90 Min., türk. kurd. engl. OmU
Di. 8.11.2022 / 18:00 mit Regisseur Mustafa Diyar Demirsoy und Protagonistin Kebire Yildiz, Moderation: Dirk von Jutrczenka, forum Kirche
Kebire Yildiz, geboren in einem ostanatolischen Dorf, hat studiert und sich sowohl in der Türkei als auch in Deutschland vielfältig engagiert, vor allem in der Arbeit mit Geflüchteten. Von 2016 bis 2019 war sie Mitglied der Bremischen Bürgerschaft.
„Trotz aller negativen Bedingungen, Hindernisse und Ausgrenzung, trotz Traumata, Folter, Gewalt, lebenslanger Diskriminierung und Armut konnte Kebire ihr Leben mit positiver Energie füllen und mit anderen Menschen auf Augenhöhe und in Solidarität interagieren. Menschen, die am Rande dieser Gesellschaft leben, arm oder obdachlos, Frauen aus verschiedenen Ländern, Kulturen, Religionen. Ihnen bietet sie ein Gesicht, Respekt, eine Perspektive.“ (Regisseur Mustafa Diyar Demirsoy).
Der Film läuft als internationale Vorpremiere.
I, Daniel Blake
GB/AT 2016, Regie: Ken Loach, mit Dave Johns, Hayley Squires, Sharon Percy, 101 Min., engl. OmU
Di. 13.12.2022 / 18:00 mit Einführung von Joachim Barloschky; Moderation: Dirk von Jutrczenka, forum Kirche
Der Tischler Daniel Blake ist ein Durchschnittsengländer, der das Leben so nimmt, wie es kommt und sich mit Anstand durchschlägt. Sein ganzes Leben lang hat er Steuern gezahlt. Doch dann bringt ihn eine Krankheit in die Bredouille und er ist plötzlich auf staatliche Hilfe angewiesen. Aber der Staat will sie ihm nicht gewähren und schon bald findet er sich in einem bürokratischen Teufelskreis aus Zuständigkeiten und Anträgen wieder. Als er eines Tages auf dem Amt die alleinerziehende Mutter Katie und ihre Kinder Daisy und Dylan kennen-lernt, beschließen sie, gemeinsam den Behörden zu trotzen. Die bürokratischen Hindernisse des Sozialstaa-tes sind hoch. Doch trotz des Gefühls von wütender Ohnmacht sind Daniel und Katie fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Ausgezeichnet mit der Goldenen Palme als bester Film auf dem Filmfest in Cannes.
Joachim Barloschky, Aktivist und Ex-Quartiersmanager: „Mein Lieblings-, Pflicht- und Kür-Film ist I, DANIEL BLAKE von Ken Loach. Meine Geliebte und ich streiten nur darüber, ob der Film auch komödiantische Züge hat – hat er nur bedingt, eigentlich muss ich – schon sechs mal gesehen – immer weinen! Aber der Film ist notwendig für alle! Kein Mensch wird bereuen, ihn gesehen zu haben.“
Unversöhnlich und mit bissigem Humor schildert Loach das britische Sozialhilfesystem als raffinierte Maschinerie von Ausgrenzung und Leistungskürzung. (Frank Arnold, epd-Film)
„Ich, Daniel Blake“ ist einer der besten Filme von Ken Loach – ein Drama der zärtlichen Verwüstung, das seine Geschichte mit einer ungeschönten neorealistischen Einfachheit erzählt, die geradewegs auf die direkte Reinheit von Vittorio De Sica zurückzuführen ist.« (Variety)
Keine Frage: „Ich, Daniel Blake“ ist ein klassischer Ken-Loach-Film, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wie ungeschminkt er Klassenunterschiede aufzeigt, wie hartnäckig er den Underdogs immer wieder einen Namen gibt: Damit steht Ken Loach, ähnlich wie Daniel Blake, nach wie vor ziemlich allein da.« (Spiegel Online)
Chinatown
USA 1974, Regie: Roman Polanski, mit Jack Nicholson, Faye Dunaway, John Huston, 131 Min., DF
Di. 17.1.2023 /18:00 mit Einführung: Axel Stiehler, Logbuchladen; Moderation: Ingeborg Mehser, Referentin, Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA)
Los Angeles 1937: Für Privatdetektiv Jake J. Gittes ist es Routine, als ihn Evelyn Mulwray bittet, ihren Mann zu beschatten. Hollis I. Mulwray, Chefingenieur der Wasserwerke, scheint fremd zu gehen. Tatsächlich gelingt es Gittes, ihn mit einer Blondine zu erwischen. Als die echte Evelyn Mulwray ihn wütend im Büro aufsucht, wird Gittes klar, dass er den Auftrag von einer Betrügerin bekam. Kurz darauf wird Hollis Mulwrays Leiche aus einem Trinkwasserkanal geborgen. Niemand stellt weitere Nachforschungen an – außer Gittes, der nicht an einen Unfall glaubt. Mulwray hatte herausgefunden, dass jede Nacht große Mengen des knappen Trinkwassers für L.A. ins Meer geleitet wurden, um aus dem Mangel noch mehr Profit zu schlagen. Zug um Zug enthüllt Gittes die Machenschaften eines geld- und machtgierigen, skrupellosen Mannes, dem eine ganze Stadt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.
Roman Polanskis spannender Detektivfilm gehört zu den Klassikern des Genres. Nach „Rosemaries Baby“ (1967) war es der zweite Film, den Roman Polanski in Hollywood drehte. „In „Chinatown“ kam es endlich zur lang geplanten Zusammenarbeit von Polanski und Jack Nicholson, der die Rolle des verbohrt nach der Wahrheit suchenden Detektivs in all seiner stoischen Hartnäckigkeit perfekt verkörpert und damit endgültig zum Star wurde.“ (3sat.de).
„In »Chinatown« spielen zwei unterschiedliche Charaktere, die um ihre eigene Freiheit ringen. Zum einen Jake Gittes, gespielt von Jack Nicholson, der als Detektiv sich seine Unabhängigkeit bewahrt hat und lieber den Mund auf macht und sich Feinde schafft, statt mit dem Strom zu schwimmen. Er arbeitet zwar in einem Team, ist aber der geborene Einzelgänger oder zumindest zu einem solchen geworden, was wir nicht wissen, da wir trotz Anspielungen – ein klassischer Noir eben – nichts über die Vergangenheit unseres Helden erfahren. Zum anderen haben wir Evelyn Cross Mulwray, gespielt von Faye Dunaway auf dem Höhepunkt Ihrer Kunst (auch wenn sie erst zwei Jahre später für »Network« den Oscar bekam). Sie ist eine stolze, aber natürlich auch geheimnisvolle Frau, die versucht sich aus den Fängen ihres übermächtigen Vaters Noah Cross (gespielt von John Huston) zu befreien … „Chinatown“ ist vermutlich der Film, den ich in meinem Leben am häufigsten gesehen habe. Aber das liegt natürlich nicht nur an seinen Hauptcharakteren, sondern auch am großartigen Drehbuch von Robert Towne, der Regie von Roman Polański, am Setdesign, der Musik und den vielen Anspielungen in der Story. (Axel Stiehler, Logbuchladen, über „Chinatown“ von Roman Polanski)
„Chinatown“ spielt zwar in einer weit zurückliegenden Zeit, deren Atmosphäre hier ungemein lebendig wird, aber der Bezug auf die Gegenwart mit vergleichbaren betrügerischen Manipulationen, Bodenspekulationen und Umweltzerstörungen ist unübersehbar. Einen erheblichen Anteil zu dieser Lebendigkeit trägt die herausragende Filmmusik von Jerry Goldsmith bei, mit ihrem wunderschön melancholisch komponierten Hauptthema. (rbb-online.de)
Macht und Ohnmacht, rohe Gewalt und die feinen menschlichen Zwischentöne liegen hier auf spektakuläre Weise eng beieinander, und diese Gegensätze auf jeder Ebene des Films lassen ein kraftvolles Meisterwerk mit soziopolitischem Hintergrund entstehen, das auf historische Begebenheiten des Los Angeles’ der 1930er Jahre referiert – ein zutiefst bewegender Film mit großer filmhistorischer Bedeutung, der auch bei heutiger Betrachtung nichts an seiner ambivalenten Wucht eingebüßt hat. (Marie Andersen, kino-zeit.de)
Kinder der Klimakrise – 4 Mädchen, 3 Kontinente, 1 Mission
AU/IND/SEN/INO 2021, Regie: Irja von Bernstorff, 88 Min.
Di. 14.2.2023 / 18:00 vorgestellt von: Dr. Yvette Gerner, Intendantin Radio Bremen: Moderation: Anja Wedig, AtriumKirche
Dass die menschengemachte Klimakrise eine der größten Gefahren für die Menschheit und unseren Planeten darstellt, ist in der Wissenschaft längst belegt, trotzdem ändert sich in der globalen Umweltpolitik kaum etwas. Besonders hart trifft dies die jüngsten Generationen, die sich mit einer Zukunft auf einem womöglich unbewohnbaren Planeten und der Tatenlosigkeit der Politik diesbezüglich konfrontiert sehen. Irja von Bernstorff begleitet in ihrem Dokumentarfilm vier Mädchen zwischen 11 und 14 Jahren, die sich auf besondere und inspirierende Art und Weise in ihren Ländern gegen die Klimakrise engagieren. Fatou setzt sich in ihrem Heimatland Senegal gegen die enorme Wasserknappheit ein, während Sabyah sich gegen die Zerstörung der Korallenriffe vor der australischen Küste stark macht. In Indonesien kämpft Nina gegen die Plastik- und Müllberge, die in ganz Südostasien mittlerweile Realität sind und Gagan leistet Widerstand gegen die industrielle Landwirtschaft, die den Boden und die Luft im indischen Punjab zerstört.
Dr. Yvette Gerner über ihre Filmauswahl:
„Es gibt viele Punkte bei denen wir unser Leben und unsere Welt ändern müssen, eine der größten Fragen unserer Zeit ist aber zweifellos die Klimakrise. Letztes Jahr urteilte das Bundesverfassungsgericht: Es dürfe nicht einer Generation zugestanden werden „unter vergleichsweise milder“ Reduktionslast große Teile des CO2-Budget zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. Doch allzu oft bleiben wir angesichts der Komplexität der Probleme, eigener Interessen untätig oder agieren zu langsam. Die Heldinnen im Film „Kinder der Klimakrise“ sind aktiv, handeln, wo andere reden und problematisieren, sie kämpfen für den Schutz unseres Planeten. Mich haben die 4 tollen Mädchen, die die Welt verändern wollen, in der wir leben, begeistert.“
Mehr Infos zum Film: Themenschwerpunkt Klimaschutz – Wissen – SWR Kindernetz
Vogelfrei
Sans toit ni loi – F/GB 1985, Regie & Drehbuch: Agnès Varda, mit Sandrine Bonnaire, Stéphane Freiss, Macha Méril, 100 Min., OmU
Di. 21.3.2023 / 18:00 vorgestellt von Katrin Hylla, Schwankhalle; moderiert von Anja Wedig, AtriumKirche
Als eines Morgens die Leiche einer jungen Frau an einem Weinberg gefunden wird, ist die Ratlosigkeit zunächst groß. Wer war diese Person? Was hat sie zu diesem Schicksal gebracht? Inspiriert von einem echten Zeitungsartikel versucht Kult-Regisseurin Agnès Varda, die mögliche Geschichte der jungen Frau in Rückblenden und fiktiven Interviews zusammen zu puzzeln. Mona wollte ein selbstbestimmtes, freies Leben führen, ohne Dach über dem Kopf, mit der Straße und dem eigenen Herzen als Wegweiser. Darum ist es auch ganz allein ihr Wille zur Tat, als sie sich gegen Wohlstand, einen gesicherten Schlafplatz und die Eintönigkeit eines „normalen Lebens“ entscheidet – und mit nur wenigen Habseligkeiten loszieht. Im winterlichen Südfrankreich streicht Mona als Vagabundin durch die Gegend und ist der rauen Landschaft, den Menschen denen sie begegnet, und sich selbst beinahe schutzlos ausgeliefert.
Ihrem eigenen Stil treu bleibend führte Agnès Varda bei diesem Film nicht nur Regie, sondern war auch für den Schnitt und das Drehbuch verantwortlich. Letzteres entstand oftmals erst während der Dreharbeiten. „Vogelfrei“ wurde 1985 in Venedig mit dem Goldenen Löwen als Bester Film der Festspiele ausgezeichnet.
Katrin Hylla über ihre Filmauswahl:
„Agnès Vardas Film über eine junge Frau, die sich im Winter mit einem Zelt ausgerüstet durch den Süden Frankreichs schlägt, fängt vor allem die schroffen Seiten dessen ein, was sich nach einer romantischen Idee von Freiheit anhört: Einfach mal losziehen, ohne Ziel, ohne Plan, frei sein. Die Protagonistin (Sandrine Bonnaire) nimmt sich, was sie braucht, was sie will, wo immer sie es kann. Für ihre Freiheit setzt sie sich einer feindlich wirkenden Umgebung in einer überwiegend männlichen Welt aus, nimmt Gefahren und Risiken auf sich, um etwas loszuwerden, über das wir nur spekulieren können. Mich hat der Film trotz seines düsteren Endes (bzw. Anfangs) als junge Frau zu einem Trip per Autostop durch Frankreich inspiriert.“
VOGELFREI ist ein Film, der einen so schnell nicht losläßt, Mona beschäftigt einen weiter, sie ist radikal, ist nie Opfer, nie bedauernswert, doch ihr Tod hinterläßt ein schlechtes Gewissen. »Ich wollte einen bewegenden Film machen, der auch über einige Gedanken meditiert, wie den der Freiheit (dieses strapazierte Wort!) und der ein gut ausgedachtes Puzzle ist; bei dem aber einige Stücke fehlen.« (Agnes Varda) (Sabine Schröder, Filmfaust, 1986)
Agnès Varda erzählt mit starken Bildern und von atmosphärisch tragischer Musik flankiert die Geschichte der Mona Bergeron, die sich aus den Erinnerungen ihrer letzten Weggefährten ergibt. Vogelfrei […] gelingt es ohne Sentimentalitäten, in halb-dokumentarischem Stil und auf bewegende Weise, die Sehnsucht nach Freiheit und auch deren Preis anhand eines außergewöhnlichen Frauenschicksals auszuloten, das letztlich in einem Straßengraben endete. (Marie Anderson, Kino-Zeit)
Mit seiner Entscheidung honoriert der Ausschuss das Gelingen eines Films der unter Verwendung sehr origineller, fast neuartiger Stilelemente klug und durchdacht seine Geschichte erzählt, ohne geschwätzig oder sentimental zu werden. Das Drehbuch legt es darauf an, dem vogelfreien Mädchen das Geheimnis seiner Herkunft zu belassen, zugleich aber den Charakter aller anderen Menschen, die seiner extremen Form, die der extremen Form Situation seiner Protagonistin entspricht. (FBW-Prädikat: besonders wertvoll)
Down by Law
USA 1986, Regie: Jim Jarmusch, mit John Lurie, Tom Waits, Roberto Benigni, Ellen Barkin, Nicoletta Braschi, 107 Min., OmU
Di. 18.4.2023 / 18:00 vorgestellt von Bernhard Docke, Rechtsanwalt; moderiert von Dirk von Jutrczenka, forum Kirche
Drei Männer landen – unabhängig voneinander – in einer Gefängniszelle in New Orleans: Zack, ein arbeitsloser DJ, sitzt unschuldig wegen Mordes. Zuhälter Jack wurde von einem seiner Kumpel hereingelegt. Und Roberto, der italienische Immigrant, hat beim Billardspielen versehentlich jemanden mit einer Kugel umgebracht. Zack und Jack hassen sich auf Anhieb. Nur in einem sind sie sich einig: Sie können Roberto nicht ausstehen. Dessen naiver Optimismus und sein unterunterbrochenes Gerede in furchtbarem Englisch bringen sie aus der Ruhe. Doch gerade Roberto ist es, der per Zufall eine Fluchtmöglichkeit entdeckt. Da zögern Jack und Zack keine Sekunde und brechen zusammen mit ihm aus. Das Trio flieht in die Sümpfe von Louisiana, dicht gefolgt vom Sheriff mit seinem Suchtrupp.
Bernhard Docke über seine Filmauswahl:
„Ein witziges skurriles Märchen in sattem Schwarz-Weiß. Drei Typen, die auf engstem Raum in einer Gefängniszelle eingesperrt sind und die sich nicht ausstehen können, müssen für einen gemeinsamen Ausbruch zueinander finden. Auf der Flucht durch die Sümpfe Louisianas werden sie zu Freunden. Drei großartige Schauspieler (John Lurie, Tom Waits und Roberto Benigni), menschliche Wärme und viel Situationskomik.“
Bernhard Docke erhielt 2006 die Carl von Ossietzky-Medaille für sein Engagement für die Befreiung von Murat Kurnaz aus Guantanamo. Mehr über Bernhard Docke.
Am 22. Januar wurde Jim Jarmusch 70. Mehr über ihn hier
„»Down by Law« – »was immer das auch heißen mag«, so rätselte das US-Showblatt »Variety« – ist unvergleichbar mit dem herkömmlichen Erzählkino, unvergleichbar mit dem europäischen Autorenkino. »Down by Law« ist auch keiner der unabhängigen amerikanischen Spielfilme von der Art, wie sie etwa John Cassavetes gedreht hat.“ (DER SPIEGEL, Nov. 1986)
„Die Kamera von Robby Müller läßt sich Zeit, zieht die pragmatische Nüchternheit langer Einstellungen aufwendigen Bewegungen vor, beobachtet wie abwartend, oft aus einer leichten Untersicht, die Szene wie eine Bühne, auf der das Drama längst vorbei ist, ohne daß sich der Vorhang geschlossen hat. Eine Komödie ist dies vorerst nicht, eher ein Beckettsches Endspiel mit autistischen Figuren, die wie unter Hypnose in ihr Unheil wanken.“ (Klaus Kreimeier, www.filmzentrale.com)
Manifesto
D 2017, Regie: Julian Rosefeldt, mit Cate Blanchett, FSK: 0, 95 Min., OmU
Di. 16.5.2023 / 18:00 vorgestellt von Renate Heitmann, Shakespeare Company; moderiert von Dirk von Jutrczenka, forum Kirche
Dass Cate Blanchett eine Meisterin der Verwandlung ist, hat sie spätestens in Todd Haynes‘ Dylan-Biopic „I’m not There“ bewiesen. Videokünstler Julian Rosefeldt lässt die Schauspielikone in seiner ursprünglich als Mehrkanal-Videoinstallation ausgestellten Arbeit MANIFESTO nun gleich in 13 verschiedene Rollen schlüpfen. In visuell atemberaubenden Szenerien rezitiert Blanchett künstlerische Manifeste des 20. Jahrhunderts – von Dada bis Dogma. Die Spannung entsteht dabei in den Gegensätzen zwischen Gesagtem und Gezeigtem: Eine biedere Middle Class-Mom spricht Claes Oldenburgs Pop-Art-Manifest als Tischgebet, eine exzentrische Revue-Choreografin wettert im Sinne des Fluxus gegen die Künstlichkeit der Kunst. Durch diese Perspektivverschiebung wird deutlich, dass die ihrerzeit hochgradig provokativen, leidenschaftlich nach Veränderung in der Kunstwelt verlangenden Texte heute selbst längst zu hübsch eingerahmten Museumsstücken geworden sind. Rosefeldt gelingt es auf beeindruckend kurzweilige Art und Weise, dieses Schema aufzubrechen und den Manifesten etwas von ihrem ursprünglichen Zündstoff zurückzugeben. „Die Lunte wird auf der Leinwand gezündet, die Explosion aber findet im Kopf der Zuschauerin statt.“ (epd-Film).
Renate Heitmann über ihre Filmauswahl:
„13 Künstlermanifeste vorgetragen von 13 sehr unterschiedlichen Figuren, interpretiert, filmisch/szenisch umgesetzt und wunderbar gespielt von der großartigen Schauspielerin Cate Blanchett, haben mich in dieser verdichteten Form sehr beeindruckt. Das ist allerbeste Verwandlungskunst zum Staunen – einerseits hochartifiziell und andererseits ist man als Zuschauerin so nah an den Figuren, dass man an in ihrer Welt Teil hat. Ich freue mich, diesen Film noch einmal sehen zu können!“
Als Erstes fallen die telegenen Settings von Manifesto ins Auge. Nicht nur touristisch bekannte Orte wie die alte Abhörstation auf dem Teufelsberg oder der Friedrichstadtpalast. Manche Episoden spielen auch auf dem Gelände einer verlassenen Düngerfabrik, auf dem Friedhof in Stahnsdorf, in einer Müllsortierungsanlage….
Zur sparsam eingesetzten Musik von Nils Frahm erschließen lange Einstellungen, langsame Schwenks und Zeitlupen das jeweilige Milieu. Im Mittelpunkt von Manifesto steht aber unangefochten Cate Blanchett.
(Katrin Doerksen, www.kino-zeit.de)
Womit die markante Australierin einmal mehr ihr bewundernswertes Chamäleon-Talent beweist; »Manifesto« ist also auch ein Fest für eine der wandlungsfähigsten Miminnen der Gegenwart, ein Solo für eine veritable Rampensau, die Blanchett denn auch mit Gusto herauslässt. (Alexandra Seitz, www.epd-film.de)
„Cate Blanchett in MANIFESTO, a Cerebral Exercise“ (Glenn Kenny, NY Times)
Diplomatie
F/D 2014, Regie: Volker Schlöndorff, mit André Dussollier, Niels Arestrup, Robert Stadlober, Burghart Klaussner, FSK: 12, 85 Min.
Di. 20.6.2023 / 18:00 vorgestellt von Cornelius Neumann-Redlin, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Bremen und Bremerhaven; moderiert von Dirk von Jutrczenka, forum Kirche
Paris im August 1944: Während der Zweite Weltkrieg noch auf Hochtouren läuft, sieht sich Nazi-Deutschland langsam aber sicher mit dem Rücken zur Wand. Die Alliierten machen jeden Tag Landgewinne und marschieren weiter gegen die deutsche Besatzung ins Feld. Bevor die französische Hauptstadt womöglich dem “Feind” in die Hand fällt, lautet der Befehl Hitlers: Paris soll am 25. August vollständig gesprengt werden – ein Trümmerfeld soll alles sein, was übrigbleibt. Am Vorabend ist bereits alles soweit – die Stadt ist komplett vermint. Doch das Unglück ereignet sich nie, denn im letzten Moment entscheidet sich der für “Groß-Paris” zuständige General von Choltitz gegen die Sprengung. Doch was bewegte diesen sonst so loyalen Nazi-Kommandeur dazu, sich dem Befehl Hitlers zu widersetzen?
Regisseur Volker Schlöndorff unternimmt einen fiktiven Erklärungsversuch dieser historischen Begebenheit und inszeniert ein Kammerspiel zwischen von Choltitz und dem schwedischen Generalkonsul Raoul Nordling, der das Todesurteil so vieler Menschen in Paris um jeden Preis verhindern will.
Cornelius Neumann-Redlin über seine Filmauswahl:
„DIPLOMATIE ist ein Kammerspiel, das – angelehnt an reale Vorgänge – die nicht erfolgte Zerstörung von Paris 1944 thematisiert. Ein brilliantes Wortduell zwischen dem deutschen Stadtkommandanten General von Choltitz und dem schwedischen Generalkonsul Raoul Nordling zeigt eindrucksvoll die Zwänge und durchaus menschlichen Nöte des einen wie die raffinierte Beharrlichkeit des anderen. Der Film regt gerade angesichts heutiger Krisen zum Nachdenken darüber an, welche Kraft und Macht die Diplomatie entfalten kann.“
Volker Schlöndorffs Film, der auf dem gleichnamigen Theaterstück von Cyril Gély beruht, zeichnet ein Treffen zweier historischer Figuren nach, dass es so nie gegeben hat. Und doch beruhen die Eckpunkte auf Tatsachen. Denn in der Tat hatte von Choltitz Zweifel an der Entscheidung, Paris in die Luft zu sprengen und erteilte letzten Endes genau diesen Befehl nicht. Ebenso ist die Ehrung des Generalkonsuls Nordling für die Rettung der Stadt historisch verbürgt. … DIPLOMATIE ist ein konzentriert erzählter, spannender und komplexer Film über ein (fiktives) Stück der Geschichte. Dazu eine großartige Lektion über die Kraft und Macht der Diplomatie. (FBW-Prädikat: besonders wertvoll)
Für zwei Schauspielgrößen wie Arestrup und Dussollier ist so eine 80-minütige Dialog-Orgie natürlich ein Fest. Und es ist ein Fest, ihnen dabei zuzusehen, wie sich ihre Figuren umkreisen, belauern und attackieren – immer mit einem unbedingten Respekt voreinander, aber auch mit dem unbedingten Willen, alle rhetorischen Mittel zu nutzen, vom echten Kompliment bis zur unverhohlenen Lüge. Choltitz ist hier weder tragischer Held noch kompromissloses Monster, sondern ein von Zweifeln durchdrungener Mensch mit zu viel Macht, der das Schicksal von möglicherweise Millionen Stadtbewohnern mit dem seiner eigenen Familie aufzuwiegen versucht. Nordling ist noch faszinierender: ein ungreifbares Mysterium zwischen ehrenhaftem Retter und eiskaltem Taktiker, der so mühelos die Gesichter wechselt, dass es immer so wirkt, als habe er nur eins. (Daniel Sander, Der Spiegel)